Hermann Schulze-Delitzsch
Hermann Schulze-Delitzsch (* 29. August 1808 in Delitzsch, als Franz Hermann Schulze; † 29. April 1883 in Potsdam) war promovierter Jurist, Richter, sozial engagierter Genossenschaftsgründer und Anwalt der Deutschen Genossenschaften, Publizist, liberaler Parlamentarier und Politiker. Er ist der Begründer des Genossenschaftswesens in Deutschland.
Geschichte
Als Sohn des damaligen Bürgermeisters von Delitzsch, wurde er in eine wohlhabende Familie hineingeboren und besuchte von 1821 bis 1827 das Leipziger Nikolaigymnasium. Er studierte bis 1830 in Leipzig und Halle (Saale) Jurisprudenz (Rechtswissenschaften). Nach seinem ersten Examen am Oberlandesgericht in Naumburg war Schulze 1832/1833 am Landgericht Torgau tätig, und leistete dort auch seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger.
Im Jahre 1833 legte er dann sein zweites Examen wiederum in Naumburg ab. Nachdem er zwei Jahre lang seinen damals kranken Vater als Patrimonialrichter in seiner Heimatstadt Delitzsch vertreten hat, absolvierte er dann sein drittes Examen 1837/38 in Berlin, wurde daraufhin zum Oberlandesgerichtsassessor ernannt und war zunächst dann in Naumburg, später auch beim Berliner Kammergericht angestellt. Von 1841 bis 1849 übte er das Amt eines Patrimonialrichters in seiner Heimatstadt aus und erhielt dadurch Einblick in die sozialen Probleme dieses Kreises. Während in der Kleinstadt Delitzsch und seiner Umgebung mit der sehr schwierigen Situation der ländlichen Unterschichten und auch der aufgrund eines rasanten Bevölkerungswachstums überdurchschnittlichen Handwerkerdichte, eher vorindustrielle Probleme zu bewältigen waren, hatte sich in der ebenfalls zum Kreis gehörenden Stadt Eilenburg bereits industrielle Strukturen herausgebildet, da hier z.B. schon im Jahre 1843 über 1.000 Arbeiter in mehreren Kattundruckereien beschäftigt waren. 1849 wurde dort dann ein Krankenunterstützungsverein gegründet und ein Jahr später führe der Eilenburger Kattunfabrikant Carl Degenkolb die vermutliche erste Betriebsvertretung Deutschlands ein.
1843 bis 1844 führten verschiedene Reisen Schulze-Delitzsch nach Schweden, Norwegen und Italien. Nach seiner Rückkehr und infolge der Mißernte von 1846 wurde in Delitzsch unter seiner Mitwirkung ein Hilfskomitee zur Beschaffung von Getreide und zur Unterhaltung einer Mühle und einer Bäckerei gegründet. Auch aufgrund dieses sozialen Engagements wurde er während der Märzrevolution 1848 als Abgeordneter seines Kreises in die Preußische Nationalversammlung gewählt, und nahm dann auch erst den Doppelnamen, als Zeichen seiner Verbundenheit mit seinem Heimatort, an. Dort wirkte er u.a. in der "Kommission für Handel und Gewerbe unter besonderer Berücksichtigung der Handwerksverhältnisse" und wurde der Vorsitzende einer eigens dem Handwerk gewidmeten weiteren Kommission, die aufgrund von ca. 1.600 Petitionen Vorschläge für ein provisorisches Gewerbegesetz erarbeitete. Wie die gesamte Kommissionsmehrheit vertrat er aber zunächst die Auffassung, im Interesse der Handwerker sei eine Einschränkung der Gewerbefreiheit, vor allem ein Prüfungszwang für die Zulassung zum Gewerbe notwendig sei.
Durch Anregungen aus der Handwerkerschaft beeinflußt, die u.a. Zusammenschlüsse zur Erreichung günstigerer Konditionen für die Kredit- und Rohstoffbeschaffung, sowie in der Produktion und dem Absatz forderte, kam er schließlich zu der Einsicht, daß eine bloße Beschränkung der Gewerbefreiheit die Situation des Handwerks nicht verbessern könne, es eher notwendig ist zur sich rasch entwickelnden Industrie aufzuschließen. Einen weiteren Impuls für sein künftiges Genossenschaftsprogramm erhielt Schulze-Delitzsch von der "Allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung", wo auch ähnliche Instrumente diskutiert wurden, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die geplanten Zusammenschlüsse auf freiwilliger Basis gebildet werden sollten, also nicht im Rahmen von Innungen mit ihrem gefühlten Zwangscharakter. Wegen seiner erklärt liberalen Einstellungen in der Zeit nach der gescheiterten Märzrevolution, wurde er wegen Aufrufs zum Aufruhr angeklagt, polizeilich überwacht und an jeder weiteren politischen Betätigung gehindert. Er entschloss sich deshalb, nach einer zwischenzeitlichen knapp einjährigen Tätigkeit als Hilfsrichter in Wreschen in der Provinz Posen, den Staatsdienst zu quittieren und sich von seiner Heimatstadt aus seinem Genossenschaftsprogramm zu widmen.
Er gründete Ende 1849 eine Schuhmachergenossenschaf und begann eine Kette von bald Hunderten von Kranken- und Sterbekassen, Rohstoffassoziationen, Produktions- , Konsum- und Kreditgenossenschaften aufzubauen. Er legte damit den Grundstein für die neue Rechtsform der Genossenschaft, die auf Organisierter Gruppenselbsthilfe basiert.
In mehreren Schriften ab 1850 forderte er im Interesse des sozialen Friedens in Deutschland, eine Interessenharmonie zwischen dem Kapital und der Arbeit und befürwortete sowie popularisierte das Genossenschaftsprinzip als Korrektiv zur damaligen frühkapitalistischen Gesellschaftsordnung. Er propagierte die Gründung von Sparvereinen (Konsumvereine), für die Beschaffung bzw. Gewährleistung der Lebensgrundlagen (Nahrung, Heizung, Wohnung) samt daran angeschlossenen Kranken-, Sterbe- und Invalidenkassen zur Absicherung alltäglicher Risiken im Handwerk. Anders als Ferdinand Lassalle und Friedrich Wilhelm Raiffeisen lehnte er aber hierbei jegliche staatliche Hilfen ab und verteidigte seine Ansichten in vielen teilweise auch heftigen Kontroversen.
Ein weiterer nützlicher Genossenschaftstyp ist der von ihm gegründete Vorschuß- oder Kreditverein, über den normalerweise von der Kreditvergabe ausgeschlossene Gruppen dringend benötigte Kleinkredite bewilligt bekommen können (wobei die Vergabe größerer Summen an die Bereitstellung eines Bürgen oder die Stellung anderer Sicherheiten geknüpft war). Dieser Verein stellt somit einen Vorgänger der heutigen KfW Bankengruppe und Investitions- und Landesbanken der deutschen Bundesländer dar. 1859 schloß er die ihm nahestehenden Genossenschaften zum Allgemeinen Verband der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften zusammen. Als er 1859 in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt wurde, zog er mit seiner Familie nach Potsdam und wohnte bis zu seinem Tode in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße 67, der Villa Baumgart. Dort setzte er das Genossenschaftsgesetzes in Preußen und im Norddeutschen Bund durch. Seit 1861 war er auch Herausgeber der "Blätter für Genossenschaftswesen", und gründete 1865 die "Deutsche Genossenschaftsbank".
Im Jahre 1871 wurde er in den Deutschen Reichstag gewählt, in dem er als Altliberaler bis zu seinem Tode auch Abgeordneter blieb. Schulze-Delitzsch hat nicht nur als "Genossenschaftsapostel "(Zitat: Heinrich Contzen) seine unübersehbaren Spuren hinterlassen, er zählte zu den herausragensten Vertretern eines sozial engagierten Liberalismus. Er war nicht nur Mitglied des engeren Ausschusses des "Protestantenvereins" im Reichstag, sondern gehörte auch zu den Gründungmitgliedern des "Kongresses deutscher Volkswirte" (auch "Volkswirtschaftlicher Kongreß"), der "Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung", des "Deutschen Nationalvereins" und der liberalen Deutschen Fortschrittspartei, deren linken Flügel er in Berlin gemeinsam mit Franz Duncker und Rudolf Virchow anführte.
Viele der an sein Genossenschaftsprogramm geknüpften Hoffnungen sind auch enttäuscht worden, dennoch erwarb sich Schulze-Delitzsch bleibende Verdienste als Schöpfer "hochbedeutungsvoller, weil über die Grenzen Deutschlands hinausragender Institutionen und Organisationen, deren Berather und Förderer, deren Seele mit voller Hingebung und Frische er blieb bis an seinen Tod" (Reichstagspräsident Albert von Levetzowin seinem Nachruf).
Hermann Schulze-Delitzsch starb am 29. April 1883 und wurde auf dem Alten Friedhof in Potsdam beerdigt.
Weblinks und Quellen
- Hermann Schulze-Delitzsch – Artikel beim Biographisch-Bibliothekarischen Kirchenlexikon
- Hermann Schulze-Delitzsch – Artikel bei der Wikipedia
- Schulze-Delitzsch Gedenkstätte – Seite bei der Stiftung des Förderkreises der Genossenschaftsmitglieder
- „Potsdam - Daten und Ansichten zur Geschichte der Stadt“; Hrsg. Potsdam-Museum, 1993
Literatur
- Hermann Schulze-Delitzschs: Schriften und Reden, hrsg. im Auftrage des Allgemeinen Verbandes der auf Selbsthilfe beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften e.V. von Friedrich Thorwart, 5 Bde., Berlin 1909-1913 (Reprint Frankfurt am Main 1990)
- Rita Aldenhoff-Hübinger: Schulze-Delitzsch, ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Diss., Baden-Baden 1984